37. Kapitel

 

Das Haus, in das Violet nach einer fünfzehnminütigen Kutschfahrt geführt wurde, roch feucht und muffig. Der Teppichboden in der Diele, die Vorhänge, die Polstermöbel in den angrenzenden Räumen... der modrige Geruch wurde noch intensiver, als sie eine Treppe hinabgingen, die, wie Violet vermutete, in einen Keller führte.

Aber dort unten roch es nicht nach Holz, nur nach Stein, Moos, Kerzen und Blut. Getrocknetem Blut. Der Geruch kam von einem großen Gegenstand in der Mitte des Raums. Wie beiläufig berührte sie ihn, als sie daran vorbeikam. Es war eine Art Altar aus Marmor. Sie zog ihre Hand sofort wieder zurück. Der süßliche Blutgeruch war ekelerregend.

»Perfektes Timing, David«, rief eine Frauenstimme von oben. Zusammen mit zwei anderen Frauen kam sie dieselbe Treppe hinunter, die Violet soeben beschritten hatte.

Violet blieb still stehen und atmete tief ein. Es war nicht einfach, die unterschwelligeren Gerüche wahrzunehmen, denn der modrige Geruch des Kellers und der durchdringend süße Blutgeruch überlagerten alles andere. Dennoch gelang es ihr.

Der Geruch der zuletzt eintretenden Frau kam ihr bekannt vor.

»Lady Elisabeth?«

»Gut erkannt«, zischte Elisabeth hasserfüllt. »Los, machen wir uns über sie her. Wir brauchen keine Hilfe von einem Menschen.«

Violet erstarrte.

»Elisabeth! Beherrsch dich«, sagte David, der ihren Arm jetzt endlich losließ, lachend. »Außerdem: Du hast deine Chance gehabt, den Clanführer zu töten. Und du hast versagt.«

»Aber sie auch!«, erklärte Elisabeth rachsüchtig.

»Ja, aber ich werde nicht noch einmal versagen«, sagte Violet ruhig. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, doch äußerlich war sie ruhig. Sie hatte sich wieder unter Kontrolle. Elisabeth kannte sie bereits, und jetzt wusste sie auch den Namen des Mannes, der sie hierhergebracht hatte: David. Wenn sie jetzt noch die Namen der beiden anderen Frauen herausfinden könnte, würde sie Patrick und die anderen umso leichter warnen können.

»Daniel hat gesagt, dass ihr mir helfen würdet, Patrick zu töten. Aber ich verstehe nicht, wie das zugehen soll«, sagte Violet so gelassen, als würde sie sich hier wie zu Hause fühlen. Doch noch während sie sprach, hörte sie Stimmen von oben. Wie viele denn noch?, dachte sie erschrocken.

Acht mehr, um genau zu sein. Violet wich unwillkürlich einen Schritt zurück, als diese acht den Kellerraum betraten. Ihr Atem roch nach frischem Blut. Sie wagte nicht, sich vorzustellen, was sie wohl gemacht hatten, bevor sie hierhergekommen waren.

»Wo ist Daniel?«, fragte Elisabeth.

»Er wird gleich mit unserem Gast hier sein«, sagte einer der Neuankömmlinge, und die anderen lachten höhnisch.

Ein Gast? Eine dunkle Vorahnung stieg in Violet auf.

Schnuppernd neigte sie den Kopf in Richtung Treppe. Da war er, Daniels moschusartiger Geruch, vermischt mit einem anderen, den sie inzwischen gut kannte.

Ismail.

Schwere Schritte kündigten Daniels Ankunft an.

»Ah, Lady Violine«, sagte er gut gelaunt, »ich habe Ihnen ein ganz besonderes Geschenk mitgebracht.«

Ein dumpfes Geräusch, als würde ein schwerer Körper zu Boden fallen. Ein entzücktes Quietschen, das von Elisabeth kam, wie Violet glaubte.

»Dann sind wir also endlich so weit, an die Öffentlichkeit zu treten?«, fragte einer.

Violet musste all ihre Beherrschung aufbieten, um sich ihr Entsetzen nicht anmerken zu lassen. War Ismail noch am Leben? Sie wäre am liebsten zu der Stelle gerannt, wo Daniel ihn hingeworfen hatte, um, falls irgendwie möglich, zu helfen.

»Ist er tot?«, fragte sie ruhig.

Daniels Geruch wurde stärker, er kam näher. Seine Finger legten sich um ihren Nacken und zogen ihr Gesicht zu sich heran.

»Das würde ich dir doch nicht antun, meine schöne Zigeunerin«, flüsterte er ihr ins Ohr. Dann wandte er sich von ihr ab und rief: »Es wird Zeit, Lady Violine in unseren Kreis aufzunehmen. Sie wird unser neuester und wichtigster Zuwachs. Heute wird sie Ismail und Patrick töten, gleich zwei Clanoberhäupter! Und dieses freudige Ereignis werden wir dann heute Abend feiern, indem wir die Auserwählte töten!«

Allgemeiner Jubel ertönte, während jemand Violet ein Messer in die Hand drückte. Es war länger als ihr altes Küchenmesser. Violet befühlte die Schneide mit dem Daumen - es war fürchterlich scharf. Daniel befahl einigen Vampiren, Ismail auf den Altar zu legen.

»Na los«, forderte Elisabeth sie spöttisch auf.

Violet hörte, wie die Vampire sich im Kreis um den Opferstein aufstellten.

Ihre Füße bewegten sich wie von selbst. Das musste ein Traum sein, ein böser Traum. Wie oft hatte sie sich diesen Moment vorgestellt, wie oft hatte sie ihn herbeigesehnt? Und jetzt, wo sich alles geändert hatte, erfüllte das Schicksal ihr ihren Wunsch.

»Ismail?«, fragte sie leise, als ihre Füße den Marmoraltar berührten. Sie hörte seine gedämpfte Antwort, verstand sie aber nicht. Sie tastete nach seinem Gesicht. Man hatte ihn geknebelt. Ihre Hände zitterten.

»Komm, Lady Violine, zeig uns, dass du unserer würdig bist!«, rief Daniel.

»So habe ich es mir aber nicht vorgestellt«, sagte sie gespielt missbilligend. Sie musste Zeit gewinnen. »Er sollte wissen, wer ich bin, aber er scheint kaum bei Bewusstsein zu sein. Was habt ihr mit ihm gemacht?«

»Keine Sorge, er kann dich hören«, antwortete Daniel, der dicht hinter ihr stand. »Das Gift, das wir ihm verabreicht haben, reicht nicht, um ihn zu töten.«

Sie hatten ihm Gift gegeben! Violet schloss einen Moment die Augen und betete um Kraft. Sie konnte ihn nicht töten, aber wenn sie es nicht tat, würde es jemand anders tun. Und sie müsste dann ebenfalls sterben.

Sie beugte sich über ihn und zog den Knebel aus seinem Mund. Keiner der Vampire versuchte sie davon abzuhalten, und sie war froh darüber.

Sag mir, was ich tun soll, flehte sie innerlich. Sie hoffte, dass Ismail noch klar genug war, um ihre Gedanken lesen zu können. Sag mir, was ich tun soll!

»Töte mich«, lallte er.

Violet kamen die Tränen, als sie das hörte. Sie richtete sich auf, das Messer mit beiden Händen umklammert. Wenn sie es nicht tat, mussten sie beide sterben.

Sie hob das Messer.

Und ließ es kraftlos fallen.

»Verräterin! Sie will ihn gar nicht töten!« Elisabeths Schrei hallte klar und deutlich durch den Raum, und für Violet klang es wie ein Todesurteil.

Daniels Geruch kam näher, und Violet rang mit ihrer jäh aufsteigenden Panik.

»Du Miststück! Wenn du nicht für uns bist, bist du gegen uns!« Er versetzte ihr eine schallende Ohrfeige, die sie quer durch den Raum schleuderte. Violet rappelte sich sofort wieder auf, aber sie hatte keine Zeit, zu sich zu kommen. Er packte sie bei den Haaren, riss ihren Kopf zurück. Verzweifelt versuchte sie ihn mit ihren Fäusten zu treffen, schlug jedoch ins Leere. Er versetzte ihr einen Hieb an den Kopf, und sie fiel zu Boden.

»Wir hätten Spaß miteinander haben können.« Er schnalzte bedauernd mit der Zunge.

Violet war zu desorientiert, um antworten zu können.

»Nehmt ihn runter. Vielleicht beginnen wir ja doch lieber mit einem Menschenopfer«, verkündete er im Plauderton.

Grobe Hände rissen ihr die Kleider vom Leib. Sie wehrte sich nicht. Wozu auch? Als sie nackt war, wurde sie hochgehoben und auf den Altar gelegt. Sie zuckte zusammen, als sie auf dem kalten Stein zu liegen kam.

Violet versuchte, tief und langsam zu atmen. Das war es also. Das Ende. Solange sie denken konnte, war sie auf den Tod vorbereitet gewesen, hatte ihn als gerechten Preis für ihre Rache an Ismail betrachtet. Doch nun merkte sie, dass sie doch nicht bereit war zu sterben. Sie hatte jetzt etwas, wofür es sich zu leben lohnte. Sie hatte die Liebe kennen gelernt.

Sie biss sich so heftig auf die Lippe, dass sie zu bluten begann. Dennoch hielt sie weiter still. Sie würde diesen Leuten nicht den Gefallen tun, zu betteln und zu winseln. Ismails Anwesenheit war ihr ein Trost. Hier war zumindest einer, eine gute Seele, die Zeuge werden würde, wie sie ihren letzten Atemzug tat.

Daniel hob ihren Arm.

»Das kann nicht sein.«

 

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